Chancenwerk e.V. wurde 2004 von dem Geschwisterpaar Şerife Vural-Banik und Murat Vural gegründet. Lesen Sie im Interview von ihren Beweggründen und erfahren Sie, was die Geschwister in ihrer Schullaufbahn erlebt haben.
„Bruder, wir müssen was tun!“ Fast 20 Jahre sind vergangen, seit Şerife Vural-Banik diese legendären Worte zu ihrem Bruder Murat Vural gesagt hat. Aus diesem Satz wurde Berufung, Leidenschaft und eine bundesweit tätige Organisation.
Angetrieben von den eigenen Erfahrungen im deutschen Bildungssystem als Kinder türkischer Gastarbeiter, gestärkt von ihren erfolgreichen Bildungswegen an der Universität und überzeugt von der Notwendigkeit von Hilfe und Unterstützung, gründete das Geschwisterpaar Şerife Vural-Banik und Murat Vural Chancenwerk e.V. Auch noch Jahre später erzählen sie gern ihre Geschichte, um zu zeigen: „Man sollte mutiger sein!“
Ihr begleitet die Schulzeit tausender Kinder. Wie war eure eigene Schulzeit?
Murat: Meine Schwester und ich sind beide in Deutschland geboren und aufgewachsen. Unsere Eltern kommen aus der Türkei. In der Schule haben wir schnell bemerkt, dass uns die deutsche Sprache Probleme bereitet, denn unser Umfeld wie die Familie und die Nachbarschaft waren durch die türkische Sprache geprägt. Unsere Eltern zogen kurz darauf mit uns in die Türkei. Wenige Jahre später kehrten wir wieder zurück nach Deutschland – ich war damals 16 Jahre alt. Aufgrund mangelhafter Deutschkenntnisse landete ich zunächst in der neunten Klasse der Hauptschule.
Şerife, welche Erinnerungen hast Du an deine Schulzeit?
Şerife: Die Grundschule war eine schreckliche Zeit. Ich kann mich an viele Situationen erinnern, die mir das Gefühl vermittelten, irgendwie schlecht zu sein. Ich habe sofort gemerkt, dass ich nicht dazu passe und ich wusste auch, dass meine Eltern mir da nicht helfen konnten – ich war allein.
Wieso hattest Du solche Probleme?
Şerife: Vor allem wegen meiner schlechten Deutschkenntnisse. Ich habe die Sprache vorher nie gebraucht. In der Nachbarschaft sprachen alle Türkisch. Auch in der Schule hatte ich schnell Anschluss zu anderen türkischen Kindern gefunden. Bei den Hausaufgaben konnte mir zu Hause keiner helfen – also habe ich sie selten gemacht.
Wann hat es Klick gemacht?
Şerife: Unsere Eltern hatten beschlossen, in die Türkei zurückzukehren. Dort hatte ich eine sehr schöne Zeit. Ich habe gelernt, diszipliniert zu sein und ich habe vor allem Bildung zu schätzen gelernt. Als ich dann wieder in Deutschland war, musste ich auf eine Hauptschule. Hier war es ganz anders, als das, was ich in der Türkei gesehen habe. Aber mein Bruder hat mir Mut gemacht. Er war zwar auf der gleichen Hauptschule, aber er hat immer gesagt: „Ich will sowieso aufs Gymnasium.“ Und das hat mich mitgerissen. Wir haben viel zusammen gelernt und galten plötzlich als die Überflieger. So habe ich meinen Realschulabschluss bestanden.
Şerife Vural-Banik und Murat Vural
Wie ging es weiter?
Murat: Mein Wunsch war es, das Gymnasium zu besuchen, worauf ich mir oft anhören musste: „Das schaffst du nicht, das kriegst du nicht hin mit dem Abitur.“ Mich hat das aber nicht entmutigt. Im Gegenteil, ich hatte Selbstvertrauen und habe immer weiter gemacht und es auf das Gymnasium geschafft. Ich absolvierte das Abitur und schloss im Anschluss ein Studium im Ingenieurswesen an.
Was hast du nach dem Schulabschluss gemacht, Şerife?
Şerife: Ich wollte mehr schaffen, aber mir hat es an Selbstvertrauen gefehlt. Das hat sich dann während meiner Ausbildung zur Arzthelferin verbessert. Mein Hausarzt hat mich damals gefragt, ob ich bei ihm eine Ausbildung machen will. Am ersten Tag meiner Ausbildung habe ich erfahren, dass man in Nordrhein-Westfalen parallel zur Ausbildung sein Fachabi machen kann. Ich hatte in der Zeit schlechte Deutsch-, Englisch- und Mathekenntnisse. In Mathe hat Murat mich unterstützt. In Englisch musste ich selbst zusehen, wie ich mich verbessere. Ich habe auf dem Trödelmarkt gearbeitet, um meine Nachhilfe zu bezahlen – mein Umfeld hat das damals belächelt. Ich habe es trotzdem durchgezogen, weil ich festgestellt hatte, dass es mir etwas bringt.
Ich habe es mir als Ziel gesetzt und dafür wollte ich alles geben. Das war für mich ein Neuanfang. Die Ausbildung hat mich persönlich weitergebracht: Von meinem Chef habe ich viel Anerkennung und Lob bekommen. In seinen Augen war ich eine ehrgeizige und zuverlässige Person. Nach zwei Jahren als Arzthelferin wollte ich studieren.
Und diese Botschaft wolltest du auch an andere Arbeiterkinder weitergeben – so wurdest du die Ideengeberin von Chancenwerk …
Şerife: Ich habe mich während meines Studiums der Sozialpädagogik intensiv mit der Situation von Migrantenkindern in Deutschland beschäftigt. Die Medien sagten: „Migrantenkinder haben Probleme in der Schule“. Und ich wusste, dass es so ist. Aber ich dachte gleichzeitig: Das darf nicht sein!
Das Thema meiner Diplomarbeit lautete: „Die Bildungssituation von
Migrantenkindern in Deutschland“. Mir wurde noch bewusster, dass wir es als Migrantenkinder schwerer haben, voranzukommen. Dem lagen nicht nur schulische, sondern auch andere Probleme zu Grunde: zum Beispiel das Aufwachsen zwischen zwei Kulturen. Aber ich wollte ein Vorbild sein für die Nachbarkinder. Ich wollte ihnen zeigen, dass man mutiger sein muss!
Das war der Startschuss für Chancenwerk e.V.
Şerife: Genau! An der Uni habe ich erst gemerkt, was mir alles fehlt. Ich war es nicht gewohnt, meine Meinung zu vertreten. Ich hatte Schwierigkeiten, zu diskutieren oder mich zu melden. Ich hatte Schwierigkeiten mit wissenschaftlichen Texten, weil ich die Schriftsprache nie richtig gelernt habe. Mir wurde auch nicht beigebracht, wie ich am besten lernen soll. Die Uni war für mich eine ganz neue Welt, hier habe ich zum ersten Mal realisiert, wie wichtig die Bildungslaufbahn sein kann, wenn man später gute Berufschancen haben will. Dennoch habe ich gesehen, dass es viele Kinder und Jugendliche aus sozial benachteiligten Familien nicht schaffen, die Hindernisse auf dem Weg zur Bildung zu überwinden. Ihnen fehlt es oft an Selbstvertrauen und an dem Glauben an sich selbst. Das wollten wir ändern, etwas zurückgeben und als Vorbilder für andere Kinder agieren. Daher haben wir Chancenwerk e.V. gegründet.
Was unterscheidet Chancenwerk e.V. von anderen Nachhilfe-Projekten?
Murat: Das Besondere an Chancenwerk e.V. ist zweifelsfrei die Unternehmensmentalität und die Begeisterung aller Beteiligten. Außerdem sind wir direkt in den Schulen aktiv. Dabei ist es uns besonders wichtig, dass jede Schülerin und jeder Schüler mitmachen kann – jeder erhält seine Chance.
Wir wirken der Bildungsbenachteiligung nachhaltig entgegen. Mit der langfristigen Umsetzung der Lernkaskade wird ein nachhaltiges bzw. „nachwachsendes“ System geschaffen, mit dem junge Menschen umfassend gefördert und ihnen neue Perspektiven eröffnet werden. Es geht um Zutrauen, ein Miteinander und um Vorbilder.
Wie können Interessierte euren Verein unterstützen?
Murat: Wir suchen fortlaufend kompetente Mitarbeiter:innen und interessierte Studierende, die sich für die Idee hinter Chancenwerk e.V. begeistern und unsere Arbeit mitgestalten möchten. Wir freuen uns neben den Bewerbungen auf unsere ausgeschriebenen Stellen jederzeit über Initiativbewerbungen. Wir benötigen außerdem Schulen, die mit uns kooperieren, sowie Stiftungen, Unternehmen und Förderpartner:innen, um die Angebote langfristig ohne Zugangshürden für sozial benachteiligte Jugendliche zu erhalten und zu finanzieren. Wir können uns dadurch auf das Wesentliche unserer Arbeit konzentrieren: die Kinder.