Im “Chancenspiegel 2017” wird untersucht, wie stark Bildungserfolge vom sozialen Hintergrund der Schüler abhängen. Mangelnde Chancengerechtigkeit für junge Ausländer ist nach der Bildungsstudie eines der Hauptprobleme im deutschen Schulsystem. Zu diesem Ergebnis kommt der Anfang März in Berlin vorgestellte “Chancenspiegel 2017” der Bertelsmann-Stiftung, eine umfangreiche Analyse schulstatistischer Daten von 2002 bis 2014.

Die Gründer von Chancenwerk e.V., Şerife und Murat Vural, kennen dieses Problem. Sie selbst wuchsen in einer türkischen Gastarbeiterfamilie auf. An die eigene Schulzeit im Ruhrgebiet erinnert sich das Geschwisterpärchen nachdenklich zurück. Denn ihre Geschichten gleichen einer wilden Achterbahnfahrt. Doch obwohl es die beiden nicht leicht oder vielleicht gerade weil es die beiden nicht leicht hatten, ermuntern sie aktuell wöchentlich fast 3.000 Kinder und Jugendliche auf ihren Bildungswegen. Denn viel zu selten steigen Kinder aus bildungsfernen Familien sozial auf, erreichen das Abitur, geschweige denn einen Hochschulabschluss. Die Gründe liegen unter anderem in mangelnden Sprachkenntnissen und zu wenig ideeller sowie fachlicher Unterstützung von zuhause. Sprache ist eine Besonderheit der Menschen, sagt man. Sie offenbart unsere Gedanken, sie ist sogar die Bezeichnung der Gedanken. Sprache ist der Schlüssel, sich und andere zu verstehen. Was tun, wenn in der eigenen Wohngegend und im Umfeld die deutsche Sprache nur selten oder nie zu hören ist? Insbesondere für Murat Vural nahm die Sprache eine schwerwiegende Rolle ein. Als er elf Jahre alt war, ging die Familie zurück in die Türkei. Dort hörte er in der Schule, er spräche kein korrektes Türkisch. Dennoch schaffte er es auf ein türkisches Eliteinternat: von 100.000 Schülerinnen und Schülern die 300 mit den besten Prüfungsergebnissen. Er gehörte dazu. Der heutige Geschäftsführer von Chancenwerk e.V. hatte zwar Schwächen im sprachlichen Bereich, er hatte aber auch Stärken und zudem ein ganz besonderes Talent: die Mathematik. Die Mathematik war sein Held, die ihn selbst zum Superhelden machte. Mit 16 Jahren kam er zurück nach Deutschland. Wieder war es die Sprache. Hier bemängelten die Lehrerinnen und Lehrer nun seine Deutschkenntnisse, aufgrund derer, er dann in der Hauptschule landete. „Das war sicherlich zunächst ein Schock, aber für mich war klar, dass ich auch diese Hürde meistern würde und es auf eine höhere Schule schaffen kann“, erzählt der Familienvater aus seiner Erinnerung. Die Lebensläufe beider sind das, was man in Deutschland als Erfolgsgeschichten bezeichnet. So wünschte sich der Vater von Şerife und Murat schon früh, dass beide studieren würden. Aus dem Wunsch wurde Realität: Şerife und Murat besuchten in Deutschland zwar anfänglich die Hauptschule, schafften aber den Übergang zum Gymnasium und machten ihr Abitur. Beide studierten und gründeten kurz darauf das Sozialunternehmen Chancenwerk e.V. (ehemals Interkultureller Bildungs- und Förderverein IBFS). Murat Vural schaffte es zudem zum Doktoranden des Elektroingenieurwesens an die Ruhr-Universität Bochum. Die Lebensgeschichten der Geschwister sind Erfolgsgeschichten, sie stellen aber auch eine Ausnahme dar. Warum schafften die beiden etwas, was so viele andere nicht schaffen? Sie kannten ihre Schwächen, sie entdeckten aber auch ihre Stärken und diese verhalfen ihnen zu einem besonders wichtigen Aspekt: an sich zu glauben.